Sorry: Jetzt wird es mal ein bisschen theoretisch. Keine Sorge, dauert nicht lange. Wer aber die folgende Aufgabe zum Wachstum von Bakterien verstanden hat, der kennt ein richtig wichtiges mathematisches Werkzeug, mit dem man in der Physik eine ganze Menge Gesetze herleiten kann - von der Abschwächung von Licht bis zum Zerfallsgesetz (ja, genau!).
Die Aufgabe...
Also: Nehmen wir mal an, in einer Petrischale säße eine einsame Bakterie - allerdings eine sehr aktive: In einer Minute teilt sich diese Bakterie einmal. Nach einer Minute sind die Bakterien schon zu zweit, nach einer weiteren Minute zu viert und so weiter. Die Frage ist: Wie viele Bakterien sitzen nach einer Stunde in der Petrischale? Diese Aufgabe lässt sich mit Hilfe einer Differentialgleichung lösen. Wem die Herleitung zu kompliziert ist (oder wer gleich wissen will, was rauskommt), der kann direkt zur Zusammenfassung springen.
Bakterienwachstum als Differentialgleichung I
Wie könnte man die Anzahl der Bakterien A(t) in Formeln übertragen? Zunächst mal gilt ja:
Zeit | Anzahl der Bakterien |
---|---|
0. Minute | A(t0 = 0) = 1 |
1. Minute | A(t1 = 1) = 2 |
2. Minute | A(t2 = 2) = 4 |
3. Minute | A(t3 = 3) = 8 |
4. Minute | A(t4 = 4) = 16 |
Wenn man nun wissen will, wie viele Bakterien zurzeit tn leben, kann man der Reihe nach A(t0), A(t1), …, A(tn-1) bestimmen, immer nach der Regel A(ti) = 2 A(ti-1). Das ist aber – besonders bei großen n – ganz schön viel Arbeit.
Besser also, man findet eine einfache Formel für A(t) - und da sind wir jetzt gefragt. Wie viele Bakterien kommen denn pro Zeitschritt tn-tn-1 zu den vorhandenen Bakterien dazu?
Vielleicht mal in einer Formel aufschreiben?
Bakterienwachstum als Differentialgleichung II
Bei wem jetzt auf dem Rechenzettel so was ähnliches steht wie: „Pro Zeitschritt kommen genauso viele Bakterien dazu, wie zurzeit tn-1 leben”, oder eine solche Formel:
... der hat die Aufgabe super gelöst, und ist obendrein schon fast fertig. Denn wer jetzt genau hinguckt, der erkennt: Links neben dem „=” steht ein Ausdruck, der eine Gerade beschreibt. Wie die aussieht, können wir uns unten auf dem Bild angucken; sie ist rot gezeichnet und „schmiegt” sich an die Kurve an - besonders, wenn man tn und tn-1 nahe zusammen wandern lässt. Das lässt sich mit der Maus mal ausprobieren, indem man auf tn klickt und es nach links zieht.
Wenn tn und tn-1 in einem Punkt t zusammenrücken, dann ist die Gerade genauso steil wie die Kurve in t:
Sie hat die Steigung
Was man mit all dem Wissen anfangen kann, steht im nächsten Fenster.
Bakterienwachstum als Differentialgleichung III
Mit Hilfe der Steigung kann man das Bakterien-Problem jetzt neu formulieren: Gesucht ist eine Funktion A(t) für die Anzahl der Bakterien, deren Steigung in jedem Punkt genau den gleichen Wert hat wie A(t) selbst. Wenn die Funktion also niedrige Werte hat, dann ist sie flach; je höhere Werte sie erreicht, desto steiler wächst sie an.
Probleme, bei denen nach einer Funktion gesucht wird, von der (nur) die Steigung (genauer: die Ableitung) bekannt ist, nennt man „Differentialgleichungen”. Und für die meisten dieser Probleme gibt es keine exakte Lösung...
Das Bakterien-Steigungsproblem ist netterweise eine Ausnahme. Seine Lösung, die Funktion A(t), ist schon seit ein paar Jahrhunderten bekannt. Es ist die Exponentialfunktion:
Wie sich leicht erkennen lässt, passt sie perfekt auf das Bakterienproblem. Wieso leicht erkennen? Zuerst einmal ist M0 = 1, denn zu Beginn war ja nur ein Bakterium da.
Dann ist C = 0, wenn wir davon ausgehen, dass es keine Bakterien gibt, die sich nicht teilen (können), d. h. alle Bakterien sind teilungsfähig und teilen sich auch tatsächlich.
Also lautet unsere Gleichung A(t) = eαt.
Und dann sollten wir uns noch daran erinnern, dass eln2 = 2 ist und schon ergibt sich die Gleichung A(t) = 2t, die perfekt unser Bakterienproblem beschreibt.
Die Exponentialfunktion in der Physik
Warum ist die Exponentialfunktion so wichtig? Ganz einfach, weil sie in der Physik fast überall vorkommt: Sie ist eine Art mathematischer Schraubenzieher und damit Teil des Basis-Handwerkszeugs.
Mit der Exponentialfunktion kann man zum Beispiel in einem Gas das Verhältnis von angeregten und Teilchen im Grundzustand ausrechnen. Oder man kann ausrechnen, wie schnell sich ein Kondensator entlädt. Man kann mit ihr Schwingungen beschreiben - zum Beispiel die elektromagnetischen Wellen, die ein Handy aussendet - oder berechnen, wie Strahlung in Materie geschluckt wird - und damit zum Beispiel die Helligkeit, die in einer bestimmten Wassertiefe im Meer herrscht, oder die Intensität von Gammastrahlung hinter einer Abschirmung.
Und schließlich kann man mit der Exponentialfunktion den Zerfall von radioaktiven Atomen beschreiben. Wie das geht, steht in den nächsten Abschnitten.